Hinter den Sternen
Es werde so viel Neues aus dem Weltall zu sehen sein, ,dass wir mit den Ohren schlackern“, sagten Astronomen etwas salopp, als im Juli 2022 die ersten Bilder des James-Webb-Weltraumteleskops zu sehen waren. Sogar US-Präsident Joe Biden hatte es sich damals nicht nehmen lassen, die erste Aufnahme im Weißen Haus zu präsentieren: das „tiefste und schärfste Infrarotbild des frühen Universums, das jemals aufgenommen wurde“, wie es hieß.
Man sah das Farbbild eines Galaxienhaufens, wie er vor -1,6 Milliarden Jahren aussah. Das Licht hatte so lange zur Erde gebraucht.
Das Webb-Teleskop ist der wissenschaftliche Nachfolger des Hubble-Teleskops, das seit 30 Jahren mit vielen spektakulären Aufnahmen Aufsehen erregt. Webb wurde Ende2021 ins All geschossen als gemeinsames Projekt von USA, Europa und Kanada – und ist ein Teleskop mit ganz neuen Dimensionen. Sein Hauptspiegel hat einen Durchmesser von 6,5 Metern. Der von Hubble hatte nur 2,.40 Meter.
Webb kann irr noch fernere, ältere Regionen des Alis schauen als Hubble. Sein Wellenbereich reicht vom roten Teil des sichtbaren Lichts bis ins rnittlere Infrarot, das auch interstellare Gaswolken besser durchdringen kann.
Nach dem Urknall
„Seine Infrarotoptiken sind so sensitiv, dass sie von der Erde aus noch die Wärme einer einzelnen Hummel auf dem Mond sehen könnten“, hieß es im Wissenschaftsjournal Science.
Das Teleskop soll wichtige wissenschaftliche Fragen beantworten, zum Beispiel Wie entstand einst das Universum? Wie entwickelt es sich?
Wie entstehen Planeten aus protoplanetaren Scheiben? Wie sehen Planeten rund um ferne Sterne – sogenannte Exoplaneten – aus und könnte es dort Leben geben?
Zu Entdeckungen, bei denen wir ,,mit den Ohren schlackern“, gibt es regelmäßig neue Studien. So fand Webb zum: Beispiel im Mai 2024 die älteste Galaxie, die je durch ein Weltraumteleskop beobachtet werden konnte. Sie zeigt sich als rötlicher Fleck auf eirfem von Galaxien wimmelnden Bild und erhielt den Namen JADES-GS-z14-0.
Ihr Licht war den Aussagen der Astronomen zufolge 13,5 Milliarden Jahre unterwegs, um die Erde zu erreichen. Der Fleck zeige die Galaxie nur 290 Millionen Jahre nach dem Urknall“, so die Forscher.
Sofort erhitzten sich die Diskussionen.
Denn diese Galaxie – wie auch andere, die man mithilfe von Webb fand – war deutlich größer und heller, als man dem Standardmodell der Kosmologie für das junge Universum angenommen hatte. Diesem Modell auf der Basis der Urknalltheorie zufolge – das vom Großteil der wissenschaftlichen Gemeinschaftvertreten wird – sollen im heute etwa 13,8 Milliarden Jahre alten Universum die ersten Sterne etwa hundert Millionen Jahre nach dem Urknall entstanden sein. Simulationen zeigten, dass kleine Bausteine von wenigen tausend
Sonnenmassen miteinander kollidierten und zu leuchtschwachen Zwerggalaxien werden“, hieß es 2021 im Joumal Spektrum.de.
Nach und nach bildeten sich größere Galaxien.
Die von Webb gefundenen Objekte seien aber, bereits so groß wie die heutige Milchstaße, als das Universum nur drei Prozent seines heutigen Alters hatte“, hieß es in einem Beitrag von MDR Wissen. Die bekannte Masse der Sterne sei vor 13,5 Milliarden Jahren bereits bis zu 100-mal größer gewesen, als bisher angenommen
worden war, sagen Forscher. Diese Enthüllung stelle „das infrage, was viele von uns für eine anerkannte Wissenschaft hielten“, erklärte Joel Leja, Astronom an der Penn State Universität den USA.
Auch die Rolle der sogenannten Dunklen Materie wird in diesem Zusarnrnenhang bezweifelt. Denn dem Standardmodell zufolge soll diese Art kosmischer Klebstoff, dessen Natur niemand kennt, Geburtshelferin der Galaxien gewesen sein, die sich nach und nach zusammensetzten.
Wo aber kommen dann die durch Webb beobachteten frühen großen Galaxien her? Das fragten sich auch Forscher rund um den Astronomen Stacy McGaugh an der CaseWestem Reserve University in Cleveland, USA. Sie vertreten in einer im November 2024 veröffentlichten Studie eine altemative Theorie. Diese widerspricht der Vorstellung, dass große Galaxien sich nach und nach aus kleinen, primitiven Bausteinen zusarnmensetzten.
Astronomen hätten die Dunkle Materie erfunden, um zu erklären, ,,wie man von einem sehr glatten frühen Universum zu großen Galaxien mit viel leerem Raum dazwischen kommt, die wir heute sehen“, behauptete der Forscher Stacy McGaugh in einem Bericht über die Studie. Seiner These zufolge, die auf der sogenannten Modifizierten Newtonschen Dynamik beruht, haben sich die Strukturen im Weltall bereits sehr früh nach dem Urknall gebildet. Die Masse, die zu einer Galaxie wird, setzt sich diesem Modell zufolge schnell zusammen und dehnt sich zunächst mit dem Rest des Universums aus. Die stärkere Schwerkraft verlangsamt die Expansion und kehrt sie dann um, sodass die Masse in sich zusammenfällt und eine Galaxie bildet – ganz ohne einen ,,Halo aus massereicher Dunkler Materie“. Gemeint ist mit Halo ein annähernd kugelförmiger Bereich, der sich weit über die Ausdehnung der sichtbaren Materie erstreckt. So wie er etwa für die Milchstraße vermutet wird.
Andere Forscher dagegen verteidigen die Theorie der Dunklen Materie. Sie vermuten, dass die von Webb-Teleskop beobachteten frühen Galaxien vielleicht gar nicht so riesig seien, wie sie wirken. Es handle sich möglicherweise um einen optischen Effekt. So könnten schwarze Löcher bei einigen dieser Galaxien dafür verantwortlich sein, dass sie heller und damit größer erscheinen, wegen der intensiven Strahlung, die entsteht, wenn Masse in ein Schwarzes Loch gesaugt wird.
Eine andere Erklärung: Vielleicht seien Galaxien im frühen Universum besser darin gewesen, Gas in Sterne umzuwandeln. Das könnte erklären, warum Webb noch immer etwa doppelt so viele große Galaxien aus der Frühzeit entdeckt, wie im Standardmodell der Kosmologie vorhergesagt werden.
Diesem Modell zufolge stelle sich das Universum ,,auf sehr große Distanzen für einen Beobachter immer gleich dar, egal an welchem Punkt im Universum er sich befindet“, heißt es in einer Erklärung dazu. Außerdem dehne sich das Universum seit einigen Milliarden Jahren beschleunigt aus. ,,Je weiter zwei Galaxien voneinander entfernt sind, umso größer ist auch die Zunahme der gegenseitigen Entfernung in einem Zeitraum. Diese Beziehung wird Hubble-Beziehung genannt.“ Dabei gebe es keinen Mittelpunkt der Expansionsbewegung I nur ein systematisches Anwachsen aller Abstände.
Um die Expansion des gesamten Universums zu erklären, wird die hypothetische Form der Dunklen Energie ‚herangezogen. Dem vorherrschenden Modell zufolge soll sich das Universum nur aus 4,9 Prozent bekannter, sichtbarer Materie zusamnensetzen. 26,8 Prozent sind Dunkle Materie und 68,3 Prozent Dunkle Energie, wie es auf dem Portal der Max-Planck-Gesellschaft heißt. Das Webb-Teleskop hat nun mit neuen, gründlicheren Messungen die schon von Hubble erhärtete These bestätigt, dass sich das Universum offenbar schneller ausdehnt als es der Theorie zufolge sollte. Ein Team um den Nobel Preisträger Adam Riess von der Johns Hopkins University in Baltimore wertete dazu Webb-Messdaten aus zwei Jahren aus und maß die Entfernungen von 16 Supernovae sowie von Cepheiden, Roten Riesen und einer Masse von kohlenstoffreichen Riesensternen. Während bei Hubble noch ein gewisses Rauschen die Messungen unsicher machten, zeigten die Webb-Daten ,,uns das Universum gewissermaßen in HD“, sagte einer der Forscher.
Das Standardmodell geht von der kosmischen HintergrundstrahIung aus. Dies ist eine Strahlung, die das gesamte Universum erfüllt und als ,,Souvenir vom Urknall“ ist. Anhand dieser berechneten Astronomen das Maß der Ausdehnung des Universums, die sogenannte Hubble-Konstante. Ihr zufolge müsste sich das Universum auf einer Strecke von 3,26 Millionen l.ichtjahren (ein Megaparsec) in jeder Sekunde um 67 Kilometer ausdehnen. Es sind den Ergebnissen des Teams um Adam Riess zufolge aber im Mittel 73 Kilometer. Die Differenz nennt sich Hubble-Spannung. Man müsse ,,das Problem der Abweichungen in der Hubble-Konstante sehr ernst nehmen“, sagte Riess. Es sei ,,eine Herausforderung, aber auch eine unglaubliche Chance, mehr über unser Universum zu lernen“.
Zur Erklärung gibt es verschiedene Ansätze. Etwa die, ,,dass in unserem Verständnis des frühen Universums etwas fehlt, beispielsweise eine neue Komponente, die dem Universum nach dem Urknali einen unerwarteten Impuls gegeben hat“, wie ein Kosmologe er-klärte, der nicht an der Studie beteiIigt war. Denkbar wäre auch, dass die Dunkle Energie als treibende Kraft sich verändere, dichter und stärker sei als im frühen Universum.
Ebenso denkbar ist es, dass die Messungen falsch sind. Gerade verweisen Artikel auf die Anwendung anderer Messmethoden durch die kanadische Astronomin Wendy Freedman. Angeblich könnten diese beweisen, dass es die beobachtete Diskrepanz der Expansionsraten gar nicht gibt.
Und eine weitere Gruppe von Forschern um den britischen Astrophysiker David Wiltshire behauptet in einer neuen Studie, dass wir Dunkle Energie gar nicht benötigten, um zu erklären, warum sich das Universum scheinbar immer schneller ausdehnt. Es handle sich laut Wiltshire um ,,eine Fehlinterpretation der Schwankungen der kinetischen Energie der Expansion, die in einem so klumpigen Universum wie dem, in dem wir leben, nicht einheitlich ist“.
Simulationen zeigen nämlich, dass das Universum in riesiger Ausdehnung von Milliarden Lichtjahren eine netzartige Struktur hat. Auf sogenannten Filamenten liegen Galaxienhaufen und Superhaufen. Dazwischen erstrecken sich riesige Leerräume, sogenannte Voids, mit nur wenigen Galaxien. Die sogenannte Hubble-Spannung beruhe laut Wiltshire auf einer Zeitverzerrung, weil in großen Leerräumen des Alls viel mehr Zeit vergangen sei als in den Galaxien. Durch die Anwesenheit großer Massen verlangsame sich laut Einsteins allgemeiner Relativitätstheorie nämlich die Zeit.
Überhaupt gibt es Konkurrenz zum Standardmodell der Kosmologie, dem zufolge sich das Universum an jedem Ort und in jede Richtung gleich verhalte. Die Theorie vom,,ansiotropen Universum“ stellt diese Symetrie grundsätzlich infrage. Ihr zufolge gibt es bei der Ausdehnung des Universums unterschiedliche Beschleunigungen.
AIs Laie mag man denken: Aber das ist doch alles egal. Ob sich große Galaxien früher oder später bildeten, ob sich das Universum schneller oder langsamer ausdehnt. Für unser Leben auf der Erde spielt das kaum eine Rolle. Aber Wissenschaft will nun mal Wissen schaffen. Bei den Beobachtungen einer beschleunigten Expansion des Llniversums zum Beispiel geht es auch um die Frage der ferneren Zukunft.
Dazu gibt es verschiedene Szenarios:
1. Das Universum dehnt sich immer weiter aus, wird immer dünner und kälter, bis alles im ,,Big Freeze“ endet, also im Kähetod.
2. Die geheimnisvolle Dunkle Energie wird immer stärker, bis sie am Ende das Universum zerreißt (,,Big Rip“).
Raum für Fantasien
Das Ende des Universums wird uns selbst nicht mehr angehen, denn das Sonnensystem wird lange zuvor verschwinden. Aber Webb liefen nicht nur immer schärfere Blicke in die Tiefe des Universums mit möglicherweise einer Billion Galaxien, von denen unsere Milchstraße nur eine ist. Sondern es schaut auch genauer ,,vor unserer Hausfür“ nach, also in unsere Milchstraße mit ihren immerhin 100.000 Lichtjahren Durchmesser. So zum Beispiel zeigte es erst jüngst, wie Planeten rund um Sterne entstehen, die viel weniger Masse haben als unsere
Sonne.
Webb sucht auch gezielter nach sogenannten Exoplaneten, also PIaneten in der Nähe ferner Sterne.
Manche davon liegen in der sogenannten habitablen Zone, in der flüssiges Wasser möglich ist, weil es nicht zu heiß oder zu kalt ist. Mit hochfeinen Spektrografen kann das Webb-Teleskop die Atmosphäre solcher Planeten analysieren. So wies es zum Beispiel erstmals Kohlendioxid in der Atmosphäre eines fernen Planeten nach, außerdem Dimethylsulfid, einen Stoff, der auf der Erde durch biologische Prozesse entsteht. All diese Entdeckungen befeuern die Debatte darum, ob sich dort Lebensformen finden oder Menschen dort leben könnten. Alles ist gewiss rein theoretisch, denn die Entfernungen sind zu riesig, um wirklich dorthin gelangen zu können. Doch genügend Raum für Fantasien bleibt allemal.
(Quelle: Berliner Zeitung vom 16. Januar 2025, Seite 17 )